G. u. L. Lehner: Österreich-Ungarn und der Boxeraufstand

Title
Österreich-Ungarn und der "Boxeraufstand" in China.


Author(s)
Lehner, Georg; Lehner, Monika
Series
Mitteilungen des österreichischen Staatsarchivs, Sonderband 6
Published
Wien 2002: StudienVerlag
Extent
740 S.
Price
€ 43,50
Reviewed for H-Soz-Kult by
Michael Obst, Wuppertal

„Ich [...] halte an dem Standpunkte fest, dass wir in China keine directen Interessen haben und auch nicht die Absicht hegen, uns solche dort zu schaffen.“ 1 Mit diesen Worten charakterisierte der Erste Sektionschef des Ministeriums des Äußern, Nikolaus Graf Szécsen von Temerin, am 6. Juli 1900 in einem Privatschreiben an den k. u. k. Außenminister Agenor Graf Goluchowski die Position der österreichisch-ungarischen Regierung zur Eskalation der Lage in China. Dennoch hat die Habsburgermonarchie bekanntlich an der internationalen Intervention zur Unterdrückung der Yihetuan-[Boxer-]Bewegung teilgenommen – wenn auch nicht mit Landtruppen, sondern nur mit Marinestreitkräften. Obwohl Österreich-Ungarn von allen Großmächten das geringste Engagement in Fernost zeigte, waren die Dimensionen der Mitwirkung an der Intervention vielfältig. Österreichisch-ungarische Einheiten nahmen – wenn auch in geringer Zahl – u.a. teil an der Verteidigung des Gesandtschaftsviertels in Beijing [Peking], an der gescheiterten Expedition Seymour zum Entsatz der Gesandtschaften, an den Kämpfen um die europäischen Niederlassungen in Tianjin [Tiëntsin], an der Eroberung der Forts von Dagu [Taku], am Vormarsch der kooperierenden Mächte gegen Beijing sowie an einigen der Expeditionen der verbündeten Mächte in die Umgebung von Beijing nach der Befreiung der Gesandtschaften. Ein österreichisch-ungarischer Offizier war ins Armeeoberkommando unter dem Grafen Alfred von Waldersee entsandt. Die Habsburgermonarchie war auch an fast allen wesentlichen diplomatischen Vorgängen beteiligt. Das Generalkonsulat in Shanghai sowie das Konsulat in der britischen Kronkolonie Hongkong [Xianggang] versuchten, die Berichterstattung über die Vorgänge in der chinesischen Hauptstadt aufrechtzuerhalten, nachdem alle telegrafischen Nachrichtenverbindungen dorthin gekappt worden waren; die Konsuln verhandelten mit den Spitzenbehörden der nicht unmittelbar von den Kämpfen betroffenen Südprovinzen Chinas; der k. u. k. Gesandte in Beijing nahm an den Diskussionen über die Friedensbedingungen mit dem Qing-Reich teil; Österreich-Ungarn war in der internationalen Kommission vertreten, die über die zukünftige Verteidigung des Gesandtschaftsviertels beriet; und nicht zuletzt beobachteten die k. u. k. Vertretungen sorgfältig die Chinapolitik der anderen an der Intervention beteiligten Mächte. Im Februar 1901 besetzten österreichisch-ungarische Einheiten ein Settlement in Tianjin und schufen so »directe Interessen« Wiens in Fernost.

Georg und Monika Lehner haben es sich zur Aufgabe gemacht, diese vielfältigen Dimensionen des österreichisch-ungarischen Engagements während des „Boxeraufstands“ anhand der umfangreichen österreichischen Quellen, der Bestände des Kriegsarchivs und des Haus-, Hof- und Staatsarchivs in Wien, darzustellen. Die Akten des Kriegsarchivs waren bereits unmittelbar nach den Ereignissen in China ausgewertet worden und in die quasi-offizielle Darstellung eingeflossen. 2 Dennoch gelingen auch auf diesem Gebiet wichtige Ergänzungen, u.a. durch die erstmalige Auswertung des Tagebuchs des Kommandanten der Eskader für Ostasien (Juli 1900 – Oktober 1901), Rudolf Graf Montecuccoli. Gegenüber den bisherigen Darstellungen der Beteiligung Österreich-Ungarns an der Intervention gegen die „Boxer“, die den Schwerpunkt zumeist auf die Kämpfe und Ereignisse in Nordchina im Sommer 1900 richteten 3, werden auch die Beteiligung des k. u. k. Gesandten in Beijing an den Friedensverhandlungen, die Ausgestaltung der Institutionen und das Alltagsleben der Matrosen ausführlich behandelt. Erstmals wird die Haltung der österreichisch-ungarischen (deutschsprachigen) Presse eingehend berücksichtigt. Dabei kommen sowohl die Rezeption der Ereignisse in China selbst in den Blick – der Ursprung der „Boxer“-Bewegung, die Gerüchte über das Schicksal der Europäer, die Debatten über das geringe Engagement des Habsburgerreichs – als auch die Reaktionen auf die China-Politik der anderen Mächte. Die „Hunnenrede“ des deutschen Kaisers beispielsweise wurde in der Presse der Donaumonarchie mit dem Hinweis auf das unkontrollierbare Temperament Wilhelms II. abgeschwächt, während sie von den k. u. k. Diplomaten intern überwiegend äußerst kritisch kommentiert wurde (S. 203f.).

Georg und Monika Lehner geht es ausdrücklich nicht um die „Beurteilung der europäischen Intervention insgesamt, sondern darum, erstmals für eine der im Sommer 1900 in China agierenden Mächte den Umgang mit den »Wirren in China« zu zeigen“ (S. 13). Diese bewusst eingeschränkte Perspektive widerspricht ihrer eigenen Einschätzung: „Die »Wirren in China« waren eines der weltpolitisch bedeutendsten Ereignisse an der Wende zum 20. Jahrhundert; zudem wurden zu jener Zeit die Weichen für die Bündnissysteme unter den Mächten für die Zeit bis zum Ersten Weltkrieg gestellt.“ (S. 663) Die auf Österreich-Ungarn fixierte Darstellung vermag diesem internationalen Aspekt des „Boxeraufstands“ wenig hinzuzufügen. Schließlich verblieb die Außenpolitik der Habsburgermonarchie bezüglich der Ereignisse in China durchaus in ihren traditionellen Bahnen: Kooperation mit den Dreibundpartnern Deutschland und Italien, Akzeptanz eines verstärkten russischen Engagements in Fernost, möglichst einvernehmliches Auftreten der Mächte gegenüber dem Qing-Reich.

Enttäuschend ist die rein deskriptive, auf Analyse und Urteil vollständig verzichtende Darstellung. 4 Über weite Strecken beschränken sich Georg und Monika Lehner darauf, die Quellen nachzuerzählen und Zitate aneinander zu reihen. Dabei entsteht oftmalig ein kaleidoskopisches, bisweilen lebendiges, häufiger jedoch beschwerliches und ermüdendes Sammelsurium von Details, in dem die Autoren selbst bisweilen den Überblick zu verlieren scheinen. 5 So erfährt der Leser beispielsweise, dass ein aus Wien stammender, sonst nicht weiter bekannter Hugo Huben, der zunächst in China vermutet worden war, sich tatsächlich im koreanischen Masan aufhielt (S. 210); dass von einer Spende von 5.000 Flaschen Cognac auf den Schiffen „Kaiserin und Königin Maria Theresia“ und „Kaiserin Elisabeth“ je 800 Flaschen verteilt wurden, auf den Schiffen „Aspern“ und „Zenta“ je 450 Flaschen, während die Landungsdetachements die verbliebenen 2 500 Flaschen erhielten, davon 300 das Detachement in Shanhaiguan (S. 215); dass beim Bahntransport eines Detachements in Richtung Beijing „der Zug aufgrund eines technischen Gebrechens der Lokomotive eine Stunde lang auf offener Strecke stehen“ blieb (S. 354); dass der Vorbeimarsch eines russischen Jägerbataillons ein k. u. k. Detachement eine Stunde lang aufhielt (S. 355); dass am 24. August 1900 die Flagge der Habsburgermonarchie um 17 Uhr auf einem Kohlenhügel errichtet und am 30. September 1900 „im Einvernehmen mit Deutschen und Italienern“ wieder eingeholt wurde (S. 361); dass das Eskader-Kommando am 29. April 1901 das Waschen der Hängematten befohlen, das Schiffskommando auf „Kaiserin und Königin Maria Theresia“ jedoch das Waschen eigenmächtig verboten hat (S. 551); dass Konteradmiral Graf Montecuccoli auf der Heimreise in Ceylon einen Botanischen Garten besichtigte und Elefanten sah (S. 635). Leider fehlt ein Personen- und Ortsverzeichnis, das die Orientierung erleichtern könnte.

Die „quellennahe“ Darstellungsmethode führt weiterhin zu völlig unausgewogenen Proportionen: Die Darstellung der Leitlinien des Architekten der neuen k. u. k. Gesandtschaft in Beijing und ihres Wiederaufbaus („Alle Kaminmauern sollten aus »gut gebrannten, ausgesuchten Ziegeln in Portlandzementmörtel gebaut« und mit Portlandcementmörtel [sic!] verputzt werden.“ (S. 613–621, Zitat S. 618)) nimmt erheblich mehr Raum in Anspruch als das gesamte Kapitel über die Intentionen und die Durchführung der Inbesitznahme der Niederlassung in Tianjin. (S. 609–612)

Jacob Burckhardt hat das böse Wort von der „Quisquilienforschung“ eines Teils der Geschichtswissenschaft gesprochen. Bei allen Verdiensten um die Erschließung der österreichischen Quellen zum „Boxeraufstand“ muten Georg und Monika Lehner ihren Lesern reichlich davon zu. 6

Anmerkungen
1 Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, PA XXIX, Karton 18, Szécsen an Goluchowski, Privatschreiben, Wien, 6. 7. 1900. Zit. auf S. 163f.
2 Ritter von Winterhalder, Theodor, Kämpfe in China. Eine Darstellung der Wirren und der Betheiligung von Österreich-Ungarns Seemacht an deren Niederwerfung in den Jahren 1900–1901, Wien 1902; auch die diplomatischen Akten sind z. T. bereits mehrfach ausgewertet worden; speziell auf Österreich-Ungarn bezogen u.a.: Schusta, Günter, Österreich-Ungarn und der Boxeraufstand, Diss. Wien 1967; Kyu-Ha Lee, China und Österreich-Ungarn. Die politischen, diplomatischen, militärischen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen – von ihrer Aufnahme (1869) bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges, Diss. Wien 1971.
3 Vgl. neben den unter Anm. 2 zitierten auch: Jung, Peter (Hg.), Sturm über China. Österreich-Ungarns Einsatz im Boxeraufstand. (Österreichische Militärgeschichte, Sonderband 2000/1), Wien 2000.
4 Bezeichnend für den deskriptiven Charakter der Darstellung ist, dass das Wort „Dreibund“ in dem gesamten Buch nur zweimal, jeweils in Zitaten an untergeordneter Stelle vorkommt. (S. 218, 436) Zudem widersprechen die Autoren der eigenen oben zitierten Einschätzung mit der Behauptung, das System wechselnder Bündnisse und Abhängigkeiten der Mächte untereinander sei „von den Ereignissen in China zumeist nur in sehr peripherer Weise beeinflusst“ worden. (S. 521)
5 Ein besonders eklatantes Beispiel findet sich auf S. 448f., wo der gleiche Sachverhalt – Goluchowski wies die k. u. k. Vertretungen an, die Haltung der Regierungen zu den Friedensbedingungen zu sondieren – dreimal wiederholt wird. Solche Redundanzen sind zahlreich, vgl. beispielsweise S. 245, 336, 362, 374f., 381, 440, 507, 564, 586, 609, 637, 638, 641, 647ff., 659.
6 Eine geraffte Fassung der Erkenntnisse der Studie ist abgedruckt in: Kuß, Susanne; Martin, Bernd (Hgg.), Das Deutsche Reich und der Boxeraufstand, München 2002, S. 103–121; S. 203–228.

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